übergeigt

“Einbürgerungstest: Reich-Ranicki wäre durchgefallen”, lautet eine Überschrift auf Spiegel Online heute – aber woher hat Spiegel Online diese Erkenntnis?

Auf Seite 33 der heutigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung (und auch online) steht ein Interview mit Reich-Ranicki zum hessischen Vorschlag über den Test für Einbürgerungswillige. Darin heißt es:

Sie haben sich den aktuellen Fragebogen des hessischen Innenministeriums für Einwanderungswillige angesehen. Was glauben Sie, würden Sie den Test bestehen?

Wohl nur teilweise, ganz sicher bin ich mir da nicht.

Verstehe ich das richtig? Deutschlands Literaturpapst würde also heute an Deutschlands Grenzen abgewiesen, wenn er sie nicht schon vor fünfzig Jahren überwunden hätte?

Ja, das ist wohl nicht ganz auszuschließen.

Was bei Reich-Ranicke also “nicht ganz auszuschließen” ist, wird bei Spiegel Online schon zur Gewissheit. Hm, aber vielleicht hat Spiegel Online das auch einfach nur falsch bei einer Agentur abgeschrieben, die unter dem Text als Quelle genannt wird. Die dpa meldete jedoch völlig korrekt:

Reich-Ranicki: Hessischer Einwanderungstest zu anspruchsvoll

Frankfurt/Main (dpa) – Der Frankfurter Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki hat den hessischen Einwanderungstest als zu anspruchsvoll kritisiert. Er sei sich nicht einmal sicher, ob er ihn selbst bestehen würde. “Wohl nur teilweise, ganz sicher bin ich mir da nicht”, sagte Reich-Ranicki in einem Interview der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” (Samstag).

Die Überschrift “Reich-Ranicki wäre durchgefallen” muss sich Spiegel Online also selbst zusammengegeigt haben…

Wenn man die Hintergründe des hessischen Vorschlages kennt und das Interview mit Reich-Ranicki komplett liest, muss man sogar zu einem ganz anderen Schluss kommen, als zu dem, zu dem Spiegel Online gekommen ist. Der Reihe nach:

Am Dienstag hatte Hessens Innenminister Volker Bouffier vorgeschlagen, dass bundesweit künftig folgende einheitlichen Voraussetzungen für Einbürgerungswillige gelten sollen: Mindestens acht Jahre Aufenthaltsdauer, ausreichende Deutschkenntnisse, Verpflichtung zu Einbürgerungskursen mit einem Wissens- und Wertetest, Ausschluss verfassungsfeindlicher Bestrebungen, Loyalitätserklärung, Eidesleistung. Seither sorgte vor allem der zweite Teil des dritten Punktes – der Test – für Diskussionsstoff. Unterschlagen wird dabei häufig der erste Teil des dritten Punktes: Die Einbürgerungskurse. Dort soll das später abgefragte Wissen gelehrt werden. In der Pressemitteilung des Innenministeriums heißt es:

Innenminister Volker Bouffier machte in diesem Zusammenhang klar, dass die Fragen im vorgelegten Leitfaden einen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad hätten und von den wenigsten ohne Vorbereitung beantwortet werden könnten: “Es ist ausdrücklich Sinn und Zweck des Leitfadens, dass sich die Bewerber intensiv auf den Test vorbereiten und sich damit mit allen Aspekten der Bundesrepublik auseinandersetzen.” Deshalb werde der Leitfaden auch im Internet veröffentlicht.

Auch Spiegel Online berichtete in gewohnt reißerischer Aufmachung über diesen Vorschlag:

Leser von SPIEGEL ONLINE können sich schon jetzt einen Überblick verschaffen und prüfen, ob Sie die deutsche Staatsbürgerschaft verdienen! Testen Sie, wie deutsch Sie sind nach dem Hessen-Modell!

In dem Artikel wird auch erwähnt, dass “neben einem verbindlichen Einbürgerungskurs und -test auch ein Eid auf die Verfassung als neue Hürden vor der Einbürgerung durchgesetzt werden sollen”. Es wird jedoch nicht deutlich, dass der Einbürgerungskurs auf den Test vorbereitet. Durch die Aufmachung des Artikels entsteht der Eindruck, Einwanderer müssten die Fragen ohne jede Vorbereitung direkt richtig beantworten können.

Auch Reich-Ranicki scheint den hessischen Vorschlag so missverstanden zu haben. Er sagt:

Die politischen Fragen, Fragen, die die Verfassung und die Struktur des deutschen Staates betreffen, hätte ich, aus der Welt jenseits des “Eisernen Vorhangs” kommend, wohl nur zum Teil beantworten können. Ich war hinreichend informiert über die deutsche Kultur, aber ich war nur schwach informiert über die politische und gesellschaftliche Struktur der Bundesrepublik.

Aber er hätte ja garnicht schon informiert sein müssen, sondern es hätte ausgereicht, den Stoff während des Einbürgerungskurses zu pauken. Und wenn man jetzt spekulieren müsste, wie Marcel Reich-Ranicki unter diesen Voraussetzungen bei dem Test abschneiden würde, dann müsste man wohl zu dem Schluss kommen:

Einbürgerungstest: Reich-Ranicki hätte bestanden

Hätte natürlich als Überschrift nicht so viel hergemacht.

Ein Gedanke zu „übergeigt

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