Leberwurst-Journalismus und andere Journalismen

Nachdem es einige Leberwurst-Journalisten mit ihrer Erregung über Til Schweiger mal wieder (via dpa) bis in meine Provinzzeitung gebracht haben, sollten wir doch mal kurz über die Aufgabe von Kunst- und Medienkritik nachdenken.

Das Grundproblem der Schweiger-Kritiker dürfte sein, was etwa Spiegel-Online in einem Nachrichtenversuch so beschreibt:

„Das Verhältnis zwischen Til Schweiger und Film- und Fernsehkritikern ist angespannt. Der Regisseur und Schauspieler verzichtet oft darauf, seine Filme zu regulären Pressevorführungen vor dem Start zugänglich zu machen.“

Das klingt, als gäbe es einen Anspruch der Presse, Filme für Besprechungen sehen zu dürfen. Dem ist natürlich nicht so, und Schweigers Umgang mit der Presse dürfte bei professionellen Autoren keinerlei Auswirkungen auf die Werkkritik haben. Davon sind allerdings viele, viele Artikel über Til Schweiger weit entfernt.

Was die beiden aktuellen Tatort-Folgen „Der große Schmerz“ und „Fegefeuer“ sowie die Rezeption eines Facebook-Postings von Schweiger dazu anbelangt, machen die Leberwurst-Journalisten mal wieder keine gute Figur:

– Die beiden Folgen waren ohne Zweifel sehr gut inszeniert. Das Ergebnis muss niemandem gefallen (so wie auch niemand sehr guten Brokkoli mögen muss), aber was Schweiger an die Adresse des Regisseurs Christian Alvart schreibt, wird man cineastisch nicht beanstanden können.

– Dass eine “schlechte” Fernseh-Quote von rund 20% (7,69 Millionen Zuschauer) Beleg für eine schlechte Sendung sein soll (“kein Erfolg“), kann kein Kritiker ernst meinen. Sonst ist eben doch „BILD“ die beste Tageszeitung der Republik. Wenn sich für einen Münster-Tatort mehr Zuschauer finden, sagt das doch nicht das Mindeste über die Qualität des Hamburg-Tatorts. Muss man daran erinnern, was die meistverkaufte deutsche Fernsehserie ist? Soll das der Benchmark sein? (Ergänzung 2022, weil der Corona-Journalismus so viele grundlegende Bildungslücken gezeigt hat: Es lassen sich absolute Zuschauerzahlen wie auch die relativen Fernsehquoten von verschiedenen Tagen/ Zeiten nicht unmittelbar vergleichen, weil es sich um unterschiedliche Situationen handelt – u.a. ist die Grundgesamtheit der Fernsehzuschauer jeweils anders. Unmittelbare auf den Zuspruch schließen lassen nur Filme, die zur selben Zeit beginnen, gleiche Länge haben, von allen potenziellen Zuschauern empfangen und gleich gut bzw. gleich wahrscheinlich (nach Belegung der Fernbedienung) aufgerufen werden können.)

– Eine völlige Unsitte ist es, angeblich journalistische Produkte mit Beschreibungen von anderen Webseiten zu füllen (siehe Kritik 2011), insbesondere mit dem Wiederkäuen von Facebook und Twitter. Die Beiträge werden für die dortige Leserschaft geschrieben („Community“), und sie sind öffentlich für jeden Interessierten. Dort kann man sie auch diskutieren oder sich gegenseitig mit Schmähungen bewerfen – es ist vollkommen überflüssig, das als „Nachricht“ verkleidet auf Papier zu bringen.

– Aber wenn man dann schon als Leberwurst-Journalist+#_*in berichten will, was alle auf Facebook lesen können, sollte man es wenigstens verstehen, weil sonst jede Umformung (mehr Eigenleistung ist ja nicht zu erbringen) zu neuer Dichtung wird. (Und wer das schafft, wird im Schweiger-Posting nicht mehr viel Echauffierstoff finden – er ist belanglos.)

Wer die journalistische Leistung der deutschen Fernsehkritik bewerten will, solle sich ihren Umgang mit Til Schweiger anschauen, nicht nur im aktuellen Tatort-Fall. Das dürfte aufschlussreich sein.

PS: Weitere Journalismen
Irgendwo muss man mal die vielen sonstigen “Journalismen” sammeln (ob nun mit Bindestrich oder ohne; die Quellenangaben behaupten nicht, es handele sich dabei um die jeweils erste Erwähnung). Z.B.:
Abschreibejournalismus (Nils Jacobsen, Meedia)
Behauptungsjournalismus (Thomas Knüwer u.a. über Gabor Steingart)
Borderlinejournalismus (Wikipedia; SPIEGEL wirft diesen Stil BILD-Chef Reichelt vor)
Erziehungsjournalismus (Jan Fleischhauer)
Eifersuchtsjournalismus (Profi-Journalisten vs. YouTuber…”)
—Fallschirmjournalismus (Parachute Journalism)
Fliegenschissjournalismus
Gagajournalismus (SpKr)
Gonzo-Journalismus
Kikeriki-Journalismus (Heribert Prantl über die Angst vor Bloggern)
—Konzernjournalismus (Wolf Stettler)
—Leberwurstjournalismus (SpKr, siehe oben)
Phantasiejournalismus (SpKr)
Popeljournalismus (SpKr)
—Rudeljournalismus (Pack Journalism; Timothy Crouse)
—Sanso-Journalismus (schäfchenweich)” (Heribert Prantl zu Konstruktivem Journalismus, 26. Januar 2017 bei NDR, nicht mehr online; Quelle)
—Schnappatmungsjournalismus (Marc Brost/ Bernhard Pörksen)
Seitennfülljournalismus (SpKr)
Shitposting-Journalismus
Skalpell-Journalismus (Samira El Ouassil, Übermedien)
Stichflammen-Journalismus (Fritz  Wolf, Der Freitag)
Troll-Journalismus (vom Experten “siegstyle”, der in unseren Anfangsmonaten hier unter jedem Beitrag rumgetrollt hat…)
Zirkusjournalismus (SpKr)
Zurufjournalismus (Felix Zimmermann, Übermedien)

PS2: Seriösere Journalismen
Neben den ganzen Ressort-Journalismen (Geschichtsjournalismus, Sportjournalismus etc.) gibt es noch ein paar Journalismen, die nicht gut in die obige Liste passen

Instagramjournalismus
Sensorjournalismus (1)

Anmerkungen:
(1) >>SUPERKÜHE ist die erste Auskopplung der Sensorstory […], die die Reporter Björn Erichsen, Jakob Vicari und Bertram Weiß zusammen mit Chapter One und dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) entwickelt haben. Ein völlig neues journalistisches Format: Sensordaten füttern einen Textroboter, der vernetzten Tieren und Dingen um uns herum zu uns sprechen lässt.<< re:publica

 

2 Gedanken zu „Leberwurst-Journalismus und andere Journalismen

  1. Pingback: Schweiger, Ampeln und Corona-Journalismus – Timo Rieg – Statements

  2. Pingback: Mal wieder “losen statt wählen” – Timo Rieg – Statements

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.