Hessische Parlaments-Vorpremiere im Spiegel-Feuilleton

Im letzten Monat sinnierte epd Medien über die “Verfloskelung der Nachrichten”, in der jedes Ereignis auf Formeln zurechtgestaucht wird. Was Spiegel-Online zu Regierungsbildung in Hessen schreibt, ist entweder formvollendeter Sprachmissgriff oder totales – vielleicht sogar bewusst inszeniertes – Unverständnis von Politik, vorausgesetzt, man sieht Journalismus noch als Informationsvermittlung für die öffentliche Kommunikation.

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Was ist passiert? Eine Abgeordnete des neuen Parlaments kündigt an, sie werde sich ans Grundgesetz halten und bei der Wahl eines Ministerpräsidenten / einer Ministerpräsidentin nicht der gegenwärtigen Parteilinie folgen, für Andrea Ypsilanti zu stimmen.
“Ypsilanti am Ende – Beck in Erklärungsnot” macht Spiegel-Online daraus als Headline zum Stichwort “Hessen-Debakel”. Das gesamte journalistische Versagen steckt bereits im ersten Satz:

“Was für ein Scheitern: Die einsame Abgeordnete Dagmar Metzger hat Andrea Ypsilantis rot-rot-grüne Regierungsträume beendet.”

Wieso ist Dagmar Metzger einsam? Geht es derzeit um eine Regierungsbildung oder um Mädchenträume, seifenblasenfeuchte gar? Und es geht weiter mit Sport und einem neuen Pressesprecher:

“CDU-Ministerpräsident Koch darf in die Nachspielzeit – SPD-Chef Beck muss dringend erklären, wie er nach dem Linksschwenk-Debakel weitermachen will.”

Also noch mal langsam: am 27. Januar haben 64 Prozent der Wahlberechtigten ihr einziges, klitzekleines Mitspracherecht genutzt und an der Landtagswahl teilgenommen. CDU und SPD liegen gleich auf mit 42 Abgeordneten, die FDP kommt auf 11, die Grünen auf 9 und die Linke auf 6. Aufgabe dieses gewählten Landtags ist es nun, einen Ministerpräsidenten zu wählen, der dann die weiteren Minister ernennt.
Nicht nur für diesen Spiegel-Online-Artikel, sondern für die gesamte Nachwahlberichterstattung ist die Grundlage, den einzelnen, über Direktmandate oder Landeslisten gewählten Abgeordneten keine Bedeutung beizumessen; sie als Stimmvieh zu sehen – wie zuvor die “Wähler”, die für das gesamte Nachwahlprozedere ebenfalls unerheblich sind.

Natürlich rechnen auch Politiker so – mit dummem Stimmvieh, mit Parteigehorsam, mit Seilschaften. Und natürlich hat sich Andreas Ypsilanti ausgerechnet, Ministerpräsidentin zu werden, wenn alle so abstimmen, wie sie es sich erhofft – und wie sie es befürchtet.
Kritischer Journalismus – hämische Kommentierungen eingeschlossen – hatte viel Aktionsfläche in den Wochen nach der Wahl – doch sie blieb ungenutzt. Allein ein Blick in das neue Buch von Florian Felix Weyh “Die letzte Wahl” bietet Arbeitsstoffe für Wochen. Und man könnte viele treffliche Fragen stellen um zu ergründen, ob das, was sich derzeit in Wiesbaden – und auch sonst überall – abspielt, irgendetwas mit Demokratie zu tun hat. Aber angesichts einer einzigen Abgeordneten, die nur von einem ihr Mandat begründenden Recht Gebrauch macht, davon zu sprechen, ein “rot-rot-grünes Kartenhaus” breche in sich zusammen, ist Leserverdummung – ob nun gewollt oder nicht besser gekonnt.

An ihrem Fall trägt Andrea Ypsilanti die alleinige Schuld. Ihre geplante Minderheitsregierung war von Anfang an höchst fragil.

Welch Wähler-Verhöhnung (dass die Nichtwähler unberücksichtigt bleiben, das ist ein Debakel, mit dem sich der Spiegel befassen könnte): Seit Wochen treiben Journalisten durch penetrante Weissagungen ein unwürdiges Spektakel an, bei dem Wahlentscheid und Gewaltenteilung nicht die Bohne interessieren. Dafür darf “die Deutsche Wirtschaft” im Spiegel kund tun, wie sie das demokratische Chaos gerne geordnet sähe.

“Und raus bist du” – hervorragend, der Journalismus hat sich weiteren Schwafelstoff geschaffen. Köpfe und ihre Gefühle füreinander ersetzen dabei kompetent jeden Anflug von Politik.

3 Gedanken zu „Hessische Parlaments-Vorpremiere im Spiegel-Feuilleton

  1. MuGo

    Am besten finde ich immer noch, dass es keinen klaren Wählerauftrag gebe. Also vielleicht sehe ich Demokratie zu romantisch, aber ich interpretiere den Wählerauftrag so, dass 36,8% der Wähler der CDU, 36,7% der SPD, 9,4% der FDP, 7,5% den Grünen und 5,1% der Linken den Auftrag gegeben haben, ihre Interessen zu vertreten. Oder mit anderen Worten: Wenn ich eine Partei wähle, will ich, dass sie ihre Forderungen umsetzt und nicht, dass sie mit einer bestimmten anderen Partei koaliert. Aber nein, erstmal Neuwahlen – der Wählerauftrag ist ja nicht klar…

  2. Fabian

    Kleine Gegenkritik, wenn man schon auf jeden Satz achtet.

    Hier heißt es: “Eine Abgeordnete des neuen Parlaments kündigt an, sie werde sich ans Grundgesetz halten und bei der Wahl eines Ministerpräsidenten / einer Ministerpräsidentin nicht der gegenwärtigen Parteilinie folgen, für Andrea Ypsilanti zu stimmen.”

    Damit wird angedeutet, Dagmar Metzger hätte sich nicht an das Grundgesetz gehalten, wenn sie für Ypsilanti gestimmt hätte, was natürlich nicht stimmt. Auch handelt es sich in diesem Fall wohl kaum um das Grundgesetz, da dieses schließlich nur Bestimmungen über die Legislative des Bundes macht. Die Rechte und Pflichten von Landtagsabgeordneten werden in den Länderverfassungen geregelt, also der “Verfassung des Landes Hessen”.

    Interessanterweise konnte ich dort auf Anhieb keinen Artikel dazu finden, dass der Abgeordnete nur seinem Gewissen verpflichtet ist. Allerdings gibt die Artikel 76, 95 und 96, die Indemnität und Immunität garantieren.

    Anmerkung Tg: Die Andeutung ist Interpretation, natürlich hatte ich bewusst zugespitzt mit der Aussage: Jemand hält sich ans Recht / nutzt sein Recht – und soll damit ein “Debakel” ausgelöst haben. So zu wählen, wie es die SPD-Spitzenkandidatin wünscht, ist keine Umkehrung, sondern eine andere Möglichkeit der freien Entscheidung.
    Diese ist konstituierend für unsere repräsentative Demokratie – mangels konkreter Wähleraufträge kann es nur das sog. freie Mandat geben. Mit dem laxen Verweis aufs Grundgesetz hatte ich aber schlicht allgemein die Gewissensfreiheit gemeint.

  3. Tim

    Herrlich finde ich stets auch die Kommentare von Franz Walter. Der begründet hinterher immer so wunderbar, warum alles gar nicht anders kommen konnte.

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