Die Tagesshow beim Spiegel (1): Walter van Rossum’s Buch

Die Tagesschau ist Volksverdummung. Und nicht nur sie, sondern alle “Tagesshows”. Sie “bilden keine Realitäten, sie schaffen auch keien Medienrealitäten, sondern Medienirrealitäten.” Meint Walter van Rossum, der literarische Henker von “Sabine Christiansen”, dem Talk der gleichnamigen Talkerin. “Politik kann ich nur erfassen auf der Ebenee einer durch Medien symbolisch hergestellten Realität. Doch man zeigt uns diese Realität nicht, man zeigt uns ein Simulacrum, das größtenteils aus Verlautbarungen besteht, die eigens für die Tagesschow geschaffen wurden.” (S. 114) Nun also henkt er die Tagesschau – und alle nie weiter spezifizierten Formatgeschwister. “Die Tagesshow – Wie man in 15 Minuten die Welt unbegreiflich macht” heißt sein neues Buch, das weit weniger mit der ARD-Institution im Speziellen als mit Nachrichtenjournalismus im Allgemeinen abrechnet.

“Die Tagesschau hat im Laufe der Jahre ihre eigene Dramaturgie entwickelt. Das heißt, sie reagiert nicht auf die Welt, auf die Natur der zu vermittelnden Ereignisse und Strukturen, über die sie zu berichten vorgibt, sondern sie reproduziert vor allem sich selbst. (…) Die ewig gleichen kalkulierten Auftritte amerikanischer Präsidenten bei Pressekonferenzen, auf dem Weg zum Hubschrauber, flankiert von Gattin und Hund, beim Händeschütteln in Camp David, die völlig austauschbaren weinenden Frauen im Kosovo, im Irak, in Palästina oder Afghanistan, die verschlossenen Türen, hinter denen mutmaßlich die Politik arbeitet, die dauerhaft aufgeräumten Reporter, die vor der schier unvergänglichen Börsenkulisse ihre witzigen Beobachtungen zu den Bocksprüngen des Börsenkapitals machen, die wehenden Reporterhaare vor dem Weißen Haus in Washington oder dem Bundeskanzleramt in Berlin, die Aufräumarbeiten nach dem letzten Bombenattentat in Jerusalem, Bagdad, Kabul, die Aufräumarbeiten nach dem letzten Vergeltungsanschlag der Amerikaner, Briten oder Israelis, der permanente Zorn des Mobs in den islamischen Ländern ,der anscheinend Zeit hat, den ganzen Tag vor laufenden Kameras irgendwie fanatisch zu protestieren und wahlweise amerikanische, britische oder dänische Flaggen zu verbrennen, das Aufgebot an Polizei und Polizeifahrzeugen bei Fahndungen, Unfällen oder Alarm, der sich meist als Fehlalarm erweist, die mobilen Kanzeln, von denen Präsidenten, Kirchenfürst, Wirtschaftskapitäne, Parteivorsitzende oder Gewerkschaftsbosse schaurige Reden halten, die sie nie geschrieben haben, die letzte Kraft beim Zieldurchlauf und die identische Explosion des Jubels, wenn ein Tor fällt- nichts davon hat das Gewicht irgendeiner besonderen Realität.” (S. 96f)

“Muss alles blanker Unsinn sein, wenn einer solche Ozeane von Wutschaum produziert?” Fragt Arno Orzessek in seiner Rezension bei Deutschlandradio Kultur und antwortet: “Nein, muss es nicht. Der Gewinn von ‘Tagesshow’ jenseits des Lustgewinns für alle Freunde inzestuöser Medien-Hetze liegt darin, die eingeschliffenen Rituale der Nachrichtensendungen sichtbar zu machen, ihre – angesichts von Minutenbeiträgen – naturgesetzliche Oberflächlichkeit zu zeigen, die (weniger naturgesetzliche) Fehlerhaftigkeit zu dokumentieren, subtile und weniger subtile Vorentscheidungen weltanschaulicher Art offen zu legen und den Nachrichtenbetrieb etwas durchschaubarer zu machen.”

Walter van Rossum will schon glücklich sein, wenn sein Buch eine Diskussion auslöst, verspricht er “Was mit Medien”, und Spiegel-Online (SpOn) steigt auch ein.

In der Tat kann man sich für den Journalismus kaum etwas mehr wünschen, als eine Diskussion über die Nachrichtenproduktion (wobei hier “Nachricht” nicht nur für das stehen sollte, was in alten Journalismus-Lehrbüchern so als Darstellungsform bezeichnet wird).

“Tag für Tag offeriert die Tagesschau ein groteskes Sammelsurium aus fragmentarisierten Informationen, Halbwahrheiten, Pseudonachrichten, plumpen ideologischen Fanfaren, Platituden, und Fehldeutungen.” (Seite 95)

“Der Autor polemisiert weniger, als es nun scheinen mag, vielmehr legt er eine fulminante Analyse eines kleinen Ausschnitts aktueller Medienwirklichkeit vor, der für das Ganze spricht”, rezensiert Frank Hartmann im Falter.

Und so wollen wir van Rossums Einladung nutzen, über das Nachrichtengeschäft an sich nachzudenken – hier an diesem Ort natürlich am Beispiel von Spiegel-Produkten.

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