Die ungeschriebene französische Revolution

Die Sozialistische Kandidatin für die französische Präsidentschaftswahl am 22. April 2007 Ségolène Royal ist dem SPIEGEL (48/2006: 140 ff) vor allem im Hinblick auf ihren “Apparat ausgebuffter Polit-Profis” eine dreiseitige Geschichte wert – eine Aneinanderreihung mehr oder weniger belangloser subjektiver Wahrnehmung. Bei der “Außenseiterin” sei “alles Show”, befindet Paris-Korrespondent Dr. Stefan Simons. Ihr Team habe – allein “mit über 40 Mitarbeitern” im “Redaktionsbüro” – die “Größe eines Kleinunternehmens”, Kollege Arnaud Montebourg sei “wirklich zu Hause” nur “in den Hauptstadtstudios der Fernsehsender”. Länger nachdenken sollte man vor dem Dechiffrieren der Aussage, die “agile Kettenraucherin” Sophie Bouchet-Petersen sei das “intellektuelle Schwergewicht”, “ein ideensprudelnder Generator”, habe “die Kapazität eines Zentralcomputers” und sei damit das “Stammhirn” (!) des Wahlkampfs. Doch geschenkt.

Unentschuldbar hingegen ist, dass in der Polemik vollständig untergeht, “wofür sie das politisch überaus korrekte, aber reichlich sperrige Label ‘partizipativer Wahlkampf’ erfand”. Denn was Royal an Bürgerbeteiligung praktiziert und für die französische Politik verbindlich plant, ist nichts weniger als eine Revolution. Nämlich die Einrichtung von “Citizens juries”, Bürgerforen, die in Deutschland von ihrem Erfinder Peter Dienel – heute leicht verstaubt klingend – “Planungszellen” genannt wurden.

Der entscheidende Ansatz an diesem “pratizipativen” Instrument ist, dass die Akteure keinerlei ausschließlich eigennützige Interessen verfolgen können (wie klassisch: Karriere, Geld, Macht), sondern dass sie tatsächlich Probleme lösen, Entscheidungen vorschlagen. Das ganze, aber enorme Hexenwerk der Citizens juries besteht darin, dass Menschen denken wollen und können, wenn sie dazu ermutig werden und einen Rahmen dafür haben:

25 per Zufall ausgewählte Bürger (vergleichbar der Schöffen-Ziehung für Gerichte) bearbeiten über vier Tage in ständig wechselnden Kleingruppen von 5 Leuten ein (politisches) Problem und finden so am Ende immer eine in der Gruppe – und damit insgesamt – tragfähige Lösung.

Natürlich kann man nicht nur, sondern man muss als Journalist fragen, wie ernst es Politikern mit der Einrichtung solcher Bürgerbeteiligungs- bzw. Bürgerentscheidungsformen sein kann (ausführlich in meinem Buch “Verbannung nach Helgoland – Reich und glücklich ohne Politiker”, hier als pdf). Aber das gesamte Themenpotenzial zu ignorieren, sich in der Deutung von Seilschaftsstrukturen zu ergehen und damit die böse Welt erkenntnisreich böse sein zu lassen, ist im mindesten Fall grober Unfug.